Kunst muß provozieren?

Der Zufall hat mir auf Facebook heute wieder einmal diesen Satz zugespielt: „Kunst muss provozieren.“ Muß sie nicht! So mein erster Einwand. Zugegeben, wer in der Kunst lebt oder sich bloß aus Passion mit Kunst befaßt, hat die Freiheit, unter tausend möglichen Positionen zu wählen. Daher kann man auch diese vertreten: „Kunst muss provozieren.“ Ich denke bloß, damit läßt sich nicht weit hüpfen.

Ich hab freilich den Verdacht, daß sich in dieser Idee ein spießbürgerliches Klischee versteckt hält, wahlweise ein unbewältigtes Autoritätsproblem, das sich mit so einem Sätzchen in seinem Aufbegehren legitimieren möchte. Die Kunst hält das sicher aus. Kein Problem!

Künstlerische Arbeit ist im Kern bloß den Regeln der Kunst verpflichtet, keiner Alltagsbewältigung, keinen sozialen oder politischen Agenda. Dieses weitere Zeugs ist ebenso nachgeordnete Fracht wie zum Beispiel Markttauglichkeit, Verträglichkeit mit allerhand menschlichem Empfinden oder gar mit den „gewissen Grenzen“.

In diesem Sinn mag so manche Kunstpraxis provokant erscheinen, denn nach hundert Generationen der Abstammung von Untertanen, Höflingen oder Fürsten aller Art sind wir darauf trainiert, in etablierten Hierarchien unsere Plätze zu kennen und Konventionen zu beachten.

Das aber sind Kategorien, die bezüglich der Kunst eigentlich keine Relevanz haben. Wer also konsequente künstlerische Arbeit verfolgt, wird zwangsläufig mit solchen Zusammenhängen kollidieren und zack! Kunst provoziert.

Naja, nicht wirklich. So viel Devianztheorie muß jetzt sein: das abweichende Verhalten wird nicht vom Abweichler konstituiert, sondern von den Reaktionen darauf. Das ist so ähnlich, wie wenn Sie einen depperten Boss haben, der eine berechtigte Beschwerde unaufgeregt entgegennehmen sollte, weil das allen Beteiligten und dem Betrieb zugute kommt.

Aber wenn das ein nervöser Fatzke mit etwas schwächelndem Ego ist, dann wird er Ihnen Ihr Verhalten als Normverletzung auslegen und das ahnden, was dazu beiträgt, einen Betrieb absandeln zu lassen, denn viele Kompetenzen versacken dann und gehen verloren, falls ein Boss solches Regiment führt.

Die Irritation ist gewöhnlich eine Anregung und kann günstige Prozesse triggern. Oder sie wird als Provokation gedeutet und nach Kräften abgestellt, mindestens angefochten. Provokation ist kein Inhalt, sondern eine Verhaltensweise, die sich danach gestaltet, wie die Umgebung darauf reagiert (Devianztheorie!).

Als vor langer Zeit in unserer Kultur dem Mythos schließlich Logos folgte, kristallisierte sich beizeiten eine interessante Auffassung heraus. Philosophie beginnt mit dem Staunen und dem Fragen. Vielleicht sorgt die Kunst manchmal für Antworten, für Staunen und Fragen aber auf jeden Fall.

— [Hart am Wind: Die Übersicht] —

Autor: Franz Blauensteiner

Kulturarbeiter - Theatermacher - übüKULTUR Hackler Vater Übü, alias Franz Blauensteiner Artdirektor und Theatermacher "Scheitern gehört zum Programm." Vom analogen Bühnenstück zum Low Budget Wild Style Movie in Episoden – dem Theaterfilm. übüFamily: übüDigital-übüFilm und übüLive | Digitale Kunstvermittlung: Theater im Internet und LiveActs Im 25. Jahr werkraumtheater, Neustart mit dem Brand die übüFamily: Im Pandemiejahr 2020 musste das Grazer werkraumtheater studio in der Glacisstraße 61A leider schließen. Aber dieÜbüs orientierten sich nach 25 Jahren Kulturschaffen neu und wagten sich an das „Unmögliche“, denn: Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better (Samuel Beckett) Doch jedes Ende hat auch einen Anfang. Man erfindet sich neu bzw. startet mit einem neuen Format durch, der übüFamily. Das Grazer werkraumtheater wurde im Jahr 1995 von Franz Blauensteiner und Rezka Kanzian gegründet und belebte erfolgreich die Freie Szene abseits der Norm. Was ursprünglich als Alternative zu den konventionellen städtischen Theatern ins Leben gerufen wurde, gilt heute, 25 Jahre später, als eigene Marke und steht für ausdrucksstarke Theaterkunst, die eben nicht (nur) unterhalten will, sondern auch berühren soll. Jedes einzelne Stück kennzeichnet eine mehr oder weniger starke, aber konstante Durchzogenheit von Tradition und Geschichte, welche uns etwa berühren mag, teils vielleicht auch unangenehm ist oder gar (un)ästhetisch wirkt. Gerade diese Reichhaltigkeit und Tiefsinnigkeit sind es, welche die Stücke und Projekte des werkraumtheaters so einzigartig machen. – Weg von der Norm und den Vorgaben, die uns die Gesellschaft ein-indoktriniert, hin zur Freiheit und Individualität und schließlich hin zur „freien Kunst“.